Der Mord an Theo van Gogh. Geschichte einer moralischen Panik

Wie können wir diese Geschichte je unseren Enkeln erzählen, die Geschichte der letzten Monate des Jahres 2004? Was wird uns im Gedächtnis bleiben? Der durchbohrte Leichnam auf der Linnaeusstraat? Die Keller, die sich öffneten? Die sich gebetsmühlenartig bewegenden Lippen der Politiker und Intellektuellen? Die Stille in der Stadt? Der Ton, der neuen Ton, der auf einmal herrschte? Wo soll ich anfangen?

Am Morgen des 2. November 2004 wurde in Amsterdam Theo van Gogh von Mohammed B. ermordet. Dieses abscheuliche Verbrechen erschütterte das Land in seinen Grundfesten, doch so sehr manche Politiker und Journalisten die Erregung des Moments auch dorthin zu treiben versuchten, es brach an der Nordsee kein Bürgerkrieg aus. Die Verhältnisse blieben vielleicht weiterhin gespannt, aber die Niederlande sind nicht in einen Stammeskrieg zwischen Autochthonen und Allochthonen geschliddert. In den Wochen nach der Ermordung Theo van Goghs war es jedoch schwierig, Ruhe zu bewahren.

Als Reaktion auf die unnuancierten Äußerungen und das opportunistische Gerede der Politiker und Journalisten schrieb Mak Gedoemd tot kwestsbaarheid (Zur Verwundbarkeit verurteilt), womit er, gut zwei Monate nach dem Mord, die Gemüter zu beruhigen versuchte.

Schon in seinem ersten Satz wählt der Autor eine Perspektive, die die Möglichkeit zur Relativierung bietet: „Wie können wir diese Geschichte je unseren Enkeln erzählen, das, was sich in den letzten Monaten des Jahres 2004 zugetragen hat?“ Dann macht Mak sich daran, die These zu widerlegen, unser Land stünde in Flammen, es befinde sich „im Krieg“, wie ein Journalist damals wortwörtlich den stellvertretenden Ministerpräsidenten zitierte. Nein, sagt Mak, die Ermordung van Goghs sei die Tat eines religiösen Fanatikers, eines verwirrten Einzelnen gewesen, sie bedeute nicht die Implosion unserer multikulturellen Gesellschaft. Den aufgeregten Ton vieler Politiker und Journalisten pariert Mak mit nackten Zahlen und einer Lektion Nationalgeschichte. Er sagt, dass Ende 2004 etwa 900.000 Moslems in den Niederlanden wohnten, zum größten Teil Türken und Marokkaner. „Von all diesen niederländischen ’Moslems’“, schreibt er, „sahen allerhöchstens zwanzig Prozent regelmäßig eine Moschee von innen. Die meisten kannten den Islam, aber nur aus der Ferne“. Von einer massenhaften Radikalisierung, die so oft beschrien worden sei, könne – so Mak – keine Rede sein.

Während viele fürchten, der massenhafte Zustrom von Ausländern stelle eine Gefahr für unseren vielgerühmten „säkularen Humanismus“, meint Mak, es sei keine Lösung, die Niederlande zu einer „kulturellen Festung“ zu machen. Auf diese Weise würden wir die komplexen Probleme unserer Zeit auf „eine einzige große innere Angstphantasie“ reduzieren.

Gedoemd tot kwetsbaarheid ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Vernunft, mit dem Mak einen Damm gegen aufpeitschenden Alarmismus, Angsthandel und Halbwahrheiten aufwerfen möchte, die sich nach der Ermordung Theo van Goghs in der gesellschaftliche Debatte wie ein Virus vermehrt haben.

Gedoemd tot kwetsbaarheid zog – nicht überraschend – eine wahre Flut von Reaktionen nach sich. In einer zweiten Streitschrift, Nagekomen flessenpost (Nachgereichte Flaschenpost), steht Mak nicht nur allen Kritikastern Rede und Antwort, sondern weist auch die absichtlichen Falschversteher zurecht. Außerdem korrigiert er einige Ungenauigkeiten der ersten Streitschrift. Mak sagt, die Niederlande würden einen Trauerprozess durchmachen, „und wir müssen alle daran glauben. Der blutige Mord an Theo van Gogh brachte diesen Schmerz schärfer denn je ans Licht: die geborgenen, behaglich nebeneinander lebenden Niederlande von vor einem Vierteljahrhundert gehören an vielen Stellen der Vergangenheit an, es gibt nichts mehr zu erkennen, die Vorhersehbarkeit ist passé.“ Er schließt mit diesem Aufruf: „Es gibt nur eine einzige Möglichkeit: die Dynamik der Hoffnung. Wir haben keine andere Wahl.“

Der Kolumnist Sylvain Ephimenco nannte Mak in der Tageszeitung Trouw einen „wildgewordenen Populisten“. Und die Berater der rechtsliberalen Partei VVD, Luuk van Middelaar und Kees Berghuis, sprachen in der „Volkskrant“ von „schmutzigen Anschuldigungen“.

Darauf angesprochen zuckt Mak mit den Achseln: „Jetzt wird kübelweise Schmutz über mich ausgegossen, tja, das ist dann eben so. Aber der Aufstieg rechtsextremer Parteien ist ein niederländisches und europäisches Problem. Ich will eine Warnung aussprechen: Passt auf, dies kann unangenehme Konsequenzen haben.“

Sein Auftreten als Autor von Streitschriften fügt dem kultivierten Image, das der „Nostalgiker“ von Bestsellern wie etwa „Wie Gott verschwand aus Jorwerd“ und „Das Jahrhundert meines Vaters“ aufgebaut hat, eine neue Dimension hinzu: „Ich war sehr wütend. Jemand musste seine Stimme erheben. Meine Aufgabe ist es, Bücher zu schreiben und zum Ordnen von Gedanken beizutragen. Ich würde doch dieser Aufgabe nicht gerecht, wenn ich das nicht täte!“ Geert Mak im Gespräch mit Niek Pas vom NRC Handelsblad

Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas
106 Seiten Suhrkamp Verlag
ISBN 9783518124635