Im Bann der Grille, im Bann der Ameise

Über alte Geschichten in einem neuen Europa

‚Ich möchte drei dieser Geschichten betrachten, Geschichten über Süd-Europa, Oekraïne und die Klima-Frage, Geschichten, die im vergangenen Jahr in Europa den Ton bestimmt haben,’ sagte Geert Mak in seinem Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Westfälischen Wilhelms-Univesität Münster am 11. Dezember 2014. ‚Unbemerkt bilden diese Geschichten die tiefe, treibende Kraft hinter der öffentlichen Meinung und den Prioritäten der Politiker, sowohl hier in Deutschland, als auch in meinem Heimatland.’

Teil eins: Die Geschichte von der Grille und der Ameise, oder: Sparsamkeit siegt immer

Es wird weniger, wenn ich ehrlich bin, aber trotzdem, auch jetzt spielt die klassische Fabel von der Grille und der Ameise noch eine wichtige Rolle. Die Grille, die den ganzen Sommer nur tanzte und sang, während die Ameise Vorräte für den Winter heranschleppte. Es wird kalt, die Grille bekommt Hunger, aber die Ameise weigert sich, ihr zu helfen: Dann hättest du eben auch arbeiten müssen. Die Tür bleibt zu. Mit den Worten Joost van den Vondels: „Die Grille bekommt nun gerechte Strafe, bekommt Vermaledeiung.“

Ach, wie erkannten wir Deutsche und Niederländer uns in dieser Geschichte wieder. Denn so verhält es sich doch: Während wir hier in Deutschland und in den Niederlanden hart arbeiten, bis ins hohe Alter, tollen die Südländern fröhlich herum und verschwenden unsere Spargroschen. Den Gürtel enger schnallen, das müssen die Grillen, und lernen, was Disziplin bedeutet!

O, wie gut passte diese Geschichte zu unseren Vorurteilen. Dabei wussten wir von Anfang an, dass die Eurokrise tatsächlich in erster Linie eine Bankenkrise war, vor allem in Ländern wie Spanien, Portugal und Irland, wo die Staatsfinanzen an und für sich kein Problem darstellten, eine Krise, für die die Verantwortung geschickt dem öffentlichen Sektor der betroffenen Länder zugeschoben wurde, so dass die Rechnung am Ende auf dem Teller von unschuldigen Steuerzahlern landete.

Gewiss, der Euro-Brand ist erst einmal fachmännisch gelöscht worden. Doch wenn wir ehrlich sind: Der Euro ist und bleibt eine äußerst problematische Währung, weil er achtzehn sehr unterschiedliche ökonomische Kulturen in eine monetäre Zwangsjacke steckt. Dadurch mangelt es in der Eurozone an der bitter nötigen monetären Flexibilität, wodurch wiederum die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Erholung eingeschränkt werden. Die Bewegungsfreiheit in dieser Zwangsjacke wurde und wird vor allem durch die nördlichen Euro-Staaten bestimmt. Und wie verlockend war dabei die Fabel von der Grille und der Ameise!

Vor allem auch durch die Moral, die diese Fabel predigt, eine Moral, die viel weiter reicht als normale finanzielle Besonnenheit. Dies ist eine Moral, bei der Sparsamkeit zugleich als Strafe dient. Wir sind nicht umsonst die beiden einzigen Länder der Welt, die für finanzielle und moralische Schuld dasselbe Wort verwenden, eben: Schuld. Schuld, die Buße erfordert. Schuld, die auch keinen Erlass duldet. Dabei hat ausgerechnet Deutschland selbst, das nach dem Krieg mit gigantischen Staatsschulden zu kämpfen hatte, die Erfahrung gemacht, wie wichtig ein Schuldenerlass für eine Wiederaufnahme des normalen Wirtschaftslebens ist! Der Verzicht auf die Rückzahlung von Schulden in Höhe von 110 Milliarden DM – offiziell ein Zahlungsaufschub bis zum Sankt Nimmerleinstag -, der 1953 auf der Londoner Konferenz beschlossen wurde, hat die deutsche Wirtschaft gerettet, mehr noch als alle Hilfe aus dem Marshallplan zusammen.

Dennoch haben wir, Niederländer und Deutsche, in den letzten Jahren diese Ameisenmoral Europa auferlegt, und uns selbst übrigens auch, obwohl die ganze Welt, inklusive des Weltwährungsfonds, uns kopfschüttelnd dabei zusah. Was wir heute in Europa erleben - zu niedrige Inflation, so dass sogar die Gefahr einer Deflation droht, unverändert hohe Arbeitslosigkeit, vor sich hin dümpelnde Nationalökonomien in Kombination mit einer kontinuierlichen Sparpolitik -, es wurde alles von einem Heer von Experten wieder und wieder vorhergesagt. Amerika, das die Ratschläge dieser Fachleute mehr oder weniger befolgt hat, klettert schon wieder aus dem Tal heraus. Wir bleiben darin stecken. Trotzdem sparen wir immer weiter, allmählich wider besseres Wissen, wie Menschen, die an Magersucht leiden und nicht mehr aufhören können, abzunehmen.

Es ging ausschließlich um die Finanzmärkte und um das Vertrauen des Finanzsektors. Das musste auf jeden Fall erhalten bleiben. Dafür hat man das Vertrauen der europäischen Bürger in das europäische Projekt rücksichtslos geopfert – mit allen dazugehörigen sozialen und politischen Folgen, die sich daraus ergaben. Das europäische Projekt hat dadurch schweren Schaden erlitten – insbesondere was die demokratische Legitimation betrifft. In Südeuropa, mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 50 (Spanien) oder gar 60 Prozent (Griechenland), wird jetzt eine ganze Generation junger Menschen mehr oder weniger abgeschrieben und vergessen. In Griechenland lebt momentan die Hälfte der Bevölkerung an der Armutsgrenze, die reichen Familien haben ihre Vermögen im Ausland in Sicherheit gebracht. Das junge Talent wandert massenhaft aus, ein braindrain, der die Misere noch verstärkt. Überall hängt die saure Luft der Sparsamkeit

Und der Fäulnis, das auch. Denn die Eurokrise war auch eine zutiefst moralische Krise. Die Straflosigkeit und die Belohnungen sogar, mit denen die verantwortlichen Banker davonkamen, der Kniefall vor den Forderungen der Finanzmärkte, die Trennung zwischen Siegern und Verlierern, die Trostlosigkeit und die Zerrüttung, mit der so viele normale Europäer den Preis für all dies bezahlen, es ließ uns, und sei es auch nur für einen Moment, einen kurzen Blick auf die herrschenden Werte in der heutigen EU erhaschen.

Es ist die Ideologie des Superkapitalismus, die wir hier in Aktion sehen – wenn auch mit dem öffentlichen Sektor als Fangnetz, falls es schiefgeht –, eine angelsächsische Ideologie, die inzwischen von all den Varianten eines gemäßigten „rheinischen“ oder skandinavischen Kapitalismus meilenweit entfernt ist. Nein, ein schöner Anblick ist das nicht. Eine Bekannte, die in einem Altersheim arbeitet, erzählte mir vor kurzem, dass die neue Geschäftsführerin der Einrichtung die alten Menschen, die ihrer Sorge anvertraut sind, stets „das Produkt“ nennt. Das meine ich.

Wir diskutieren heute viel über die Zunehmende Anzahl von Tätigkeiten, die bis jetzt von Menschen ausgeübt wurden und die von Robotern übernommen werden sollen, und über die Gefahr, dass durch diese Automatisierung die menschlichen Werte immer häufiger ins Hintertreffen geraten. Nun, in der Wirtschaft und vor allem auf dem Finanzsektor ist dieser Prozess der Dehumanisierung in vollem Gang – und in manchen Bereichen ist er sogar fast vollständig vollzogen.

Dass auch wir Nordeuropäer auf diesem Gebiet einmal eigene Werte hatten, dass es einmal eine Zeit gab, in der wir Arbeitslosigkeit und Armut nicht als „collateral damage“ betrachteten, sondern als ein großes, moralisches Problem, das scheinen wir vergessen zu haben. Wir sind eiskalt geworden, wir ewigen Ameisen.

„Viele Menschen fühlen sich wie Fremdlinge und Außenseiter in der Stadt oder dem Land, in dem sie geboren wurden“, schrieb der britische Politologe Frank Furedi unlängst in einem Essay über den europäischen Populismus. Die Menschen fühlen sich körperlich von ihren Regierungen und Institutionen abgeschnitten und sie fühlen sich von ihren Politikern, die nur noch auf Macht, Ruhe und Ergebenheit aus sind, herablassend behandelt. Dies alles führt dazu, dass sich unter allem europäischen Protest, von links, von rechts, populistisch oder nicht, eine neue gemeinsame Geschichte verbirgt: eine starke, tiefe Sehnsucht nach Solidarität.

 

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