DAS ERSTARRTE EUROPA

WILLY BRANDT LECTURE 2011

Humboldt–Universität zu Berlin

23. November 2011, 18.00 Uhr

 

"DAS ERSTARRTE EUROPA" – URSACHEN UND AUSWEGE

Geert Mak

 

Meine Damen und Herren!

 

Darf ich Sie kurz an die Hand nehmen und zu einer Reise durch Raum und Zeit einladen? Ich möchte Sie gerne aus diesem Saal entführen – in mein Heimatland, und zwar an den lieblichen Ort Laren in Nordholland.

Wir schreiben das Jahr 1934. Es ist Samstagnachmittag, der 24. Februar. Und es ist – wie heute hier in Berlin – ziemlich kalt.

Gerade ist ein Bus mit einer fröhlichen Gruppe junger Revolutionäre in Laren angekommen. Es handelt sich um junge Sozialisten, Trotzkisten und andere Rebellen – um die Abgesandten des vierten internationalen Kongresses des "Sozialistischen Jugendbundes". Ihr Ziel ist die Gründung einer vierten Jugend–Internationale. Diese jungen Menschen wollen einen Umbruch, aber nicht einen, der von außen über sie hereinbricht – sondern einen Umbruch von unten, einen, den sie selbst gestalten. Sie wollen die Zukunft gestalten – und zwar eine lebenswerte Zukunft für alle.

Bei all diesen ernsthaften Anliegen wurde in jenen linksradikalen Kreisen  auch viel gelacht. Darüber liest man freilich nichts in den Geschichtsbüchern. Aber der Spaß an der Sache war da – zumindest wenn ich meiner alten Freundin Beppie Spanjer Glauben schenken darf.

Die Dame ist inzwischen hochbetagt. 1934 war Beppie Spanjer jedoch erst neunzehn Jahre alt – ein bildhübsches Mädchen voller Witz und Charme. "Eine fantastische Gesellschaft kam damals zusammen," sollte sie mir viele Jahre später erzählen. "Unser Status war so illegal wie nur irgendwas. Wir saßen zusammen in einem Raum am Damrak im Herzen von Amsterdam. Und da sah ich Willy Brandt zum ersten Mal – einen jungen Mann in einem fusseligen Pullover. Damals hieß er noch Herbert Frahm. Zusammen mit all den jungen Leuten sind wir dann mit einem Bus weiter nach Laren gefahren. Das Ganze ähnelte einem lustigen, gemütlichen Klassenausflug; aber es sah eben nur so aus. Ja, das war ein ziemlicher hübscher Bursche, der Herbert."

So weit die Erzählung von Beppie Spanjer.

Als die Gruppe radikaler Jungsozialisten die Jugendherberge „De Toorts“ in Laren erreicht hatte riss jemand plötzlich den Vorhang zum Versammlungsraum beiseite und rief: "Polizeikontrolle!" Einige Jungs sprangen sofort aus dem Fenster; die meisten aber waren viel zu überrascht. Alle anwesenden Ausländer wurden im Auftrag des Larener Bürgermeisters festgenommen, obwohl nicht ein einzige Anschuldigung gegen sie vorlag. "Das waren alles ganz einfache Jungs mit einer linken politischen Einstellung und nach hinten gekämmtem Haar", erzählte Beppie Spanjer weiter, "und das war auch schon ihr einziger Fehler." Sie selbst fuhr mit ihren Freunden so schnell wie möglich nach Amsterdam zurück, um einen Anwalt zu organisieren. Mehr konnten sie nicht für ihre jungen Genossen tun. Das Ende der Geschichte: Vier aus Deutschland stammende junge Männer wurden am Grenzübergang Zevenaar der Gestapo übergeben.

Herbert Frahm hatte damals kolossales Glück. Als politischer Flüchtling aus Oslo besaß er einen gefälschten norwegischen Pass und wurde deshalb nach Belgien abgeschoben. Nur wenige Nächte verbrachte er in Amsterdam in Polizeigewahrsam.

Dreizehn Jahre und eine Ewigkeit später sollte Beppie Spanjer Herbert Frahm wiedersehen, und zwar im Nachkriegs–Berlin. Er hatte inzwischen einen neuen Namen angenommen: Willy Brandt – einen „Jedermannsnamen“, wie er selbst fand. Willy, tätig als Presseattaché an der norwegischen Militärmission, trug nun eine schicke  Uniform – und er hatte den Kopf voll mit deutscher Politik. "Dünn wie Bohnenstangen waren wir“, erzählte Beppie mir – "aber was hatten wir doch zusammen für einen Spaß! Willy konnte einfach jeden begeistern! Und er hatte eben das 'gewisse Etwas'!“

Ja, so fing alles an. Mit Herbert Frahm in seinem fusseligen Pullover und all den Jungs mit ihrem nach hinten gekämmtem Haar – und auch einigen tapferen Mädchen, die dabei waren. Und es waren nicht nur Sozialisten, die sich damals engagierten, sondern auch andere, von Kommunisten bis hin zu Christdemokraten. Mit ihrem Mut, mit ihrem Idealismus und mit ihrer Leidenschaft hat alles begonnen.

Es waren schwere Zeiten. Doch die Menschen saßen nicht erstarrt da, um ihr Schicksal abzuwarten. Sie nahmen es selbst in die Hand!

Wir haben diesen engagieren Menschen viel zu verdanken.

Und mit welch erstaunten Blicken würden sie auf das heutige Europa sehen – auf eine Union, die mittlerweile 27 Mitgliedsländer umfasst, die mit ihrer vereinten Wirtschaftskraft zu den weltweit wichtigsten Exporteuren zählt und zugleich zu den wichtigsten Investoren. Wir fahren mit 120 Stundenkilometern über Grenzen hinweg, die einst streng bewacht und mitunter heftig umkämpft waren. Und wir staunen nicht einmal mehr darüber!

Das ist alles äußerst beeindruckend. Aber zugleich müssen wir gegenüber diesen Jungen und Mädchen zugeben, dass ihr Ideal, ein geeintes Europa, im Jahr 2011 zu einem ergrauten, trägen Ungetüm geworden ist – ein Gebäude mit Fensterrahmen, von denen die Farbe abblättert, mit sich absenkenden Fundamenten und Rissen in den Wänden, die gerade jetzt sehr schnell tiefer und breiter werden.

Der Niedergang der Eurozone, der bis vor kurzem noch undenkbar war, vollzieht sich nun vor unseren Augen. Immer mehr ähnelt unser Europa dem Turmbau von Babel, in seiner Endphase.

"It was not created to bring us to heaven," sagte der frühere UNO–Generalsekretär Dag Hammarskjold einmal über die Vereinten Nationen, "but to save us from hell."

Dasselbe galt und gilt für die Europäische Union.

Willy Brandt, noch im Kaiserreich geboren und kurz nach dem Mauerfall gestorben, war in jeder Hinsicht ein Kind Europas, gezeichnet und gegerbt von den Stürmen des zwanzigsten Jahrhunderts, die über den Kontinent hinweggezogen sind. Schon im Frühling 1944 skizzierten Willy Brandt, Bruno Kreisky und andere sozialistische Freunde während ihres gemeinsamen Exils in Schweden einen Entwurf für eine Art Europäische Union –  wobei sie nicht wissen konnten, dass zur gleichen Zeit Jean Monnet in Algier ebenfalls mit genau diesem Gedanken beschäftigt war. Nach Ende des Krieges würde die Deutsche Frage, nach Brandts Worten, "in einen europäischen Zusammenhang eingeordnet" werden müssen – so kam er zu seinem Plädoyer für eine europäische Föderation im Nachkriegseuropa.

Und aus diesen Ideen wurde letztlich die Europäische Union geboren: aus einer tiefen gemeinsamen Überzeugung von Menschen wie Willy Brandt, die aus eigener Erfahrung die dunkelsten Momente des zwanzigsten Jahrhunderts durchlebt hatten – die Weltwirtschaftskrise, den Kriegsausbruch, die Schlachten, die Luftangriffe, die Konzentrationslager. Aus diesen Beobachtungen und Erfahrungen heraus hatten diese Menschen den Mut gefunden, über sich selbst und  ihre nationalen Begrenzungen hinauszuwachsen. Europa war in erster Linie eine Friedensprojekt, das dürfen wir nicht vergessen.

Aber es war mehr. Es war auch die besondere Natur und Güte dieses Friedens, die Europa als Region heute zu etwas so Besonderem machte. Das alles geht zurück auf eine „Erfolgsformel“, wie ich das gerne nenne. Und dies ist die Erfolgsformel der Europäischen Integration – die Chance, die wir ergriffen haben, auf überstaatlicher Ebene die Entwicklungen und das Geschehen in den einzelnen Mitgliedsstaaten aufeinander abzustimmen und zu organisieren. Wir hatten keine Angst, für diese Idee immer größere Teile unserer nationalen Souveränität aufzugeben.

Und wir sind noch weiter gegangen. Wir wollten Vorbild sein und hofften, dass man überall auf der Welt auf ähnliche Weise zusammenarbeiten und  wir so den Klimawandel und die anderen globalen Herausforderungen in den Griff bekommen würden. In unseren Augen war Europa eine Art Laboratorium. Hier wurden die Methoden effektiver zwischenstaatlicher Zusammenarbeit bereits Jahrzehnte im Voraus erprobt.

Der im achtzehnten Jahrhundert lebende Historiker Edward Gibbon wurde einmal nach dem Zeitalter gefragt, in dem die Menschen seiner Ansicht nach  am wunschlosesten und glücklichsten gelebt hätten. Ohne Zögern nannte er das Römische Reich während des zweiten Jahrhunderts nach Christus.

Würde Edward Gibbon heute die gleiche Frage gestellt, würde er mit Sicherheit die Europäische Union nennen – und zwar in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Ja, meine Damen und Herren, das war unsere Europäische Union noch bis vor so kurzer Zeit. Und jetzt bin ich gezwungen hier Ihre Abend hier, in das gute Berlin, zu verpesten mit ein schwer pessimistische Vortrag über dasselbe Europa. Mein Hertz sagt nein, aber mein nuchtern Verstand zwingt mir dazu.  

Wir wissen ja alle nur allzu gut, was los ist. Europa steht vor einer gigantischen Schuldenkrise, vor einem äußerst maroden Bankensektor, und vor einer sich ständig vertiefenden Kluft zwischen den starken und den schwachen Volkswirtschaften seiner Mitgliedsländer. Europa sieht sich konfrontiert mit unterschiedlichen Verwaltungskulturen im Norden und im Süden und mit einem immer schneller schwindenden öffentlichen Vertrauen.

Dies ist eine gefährliche Mischung von Problemherden. Und diese Mischung droht jeden Augenblick zu explodieren. Und ausgerechnet in dieser bedrohlichen Situation erweist sich die Eurozone als ein steuerloses Schiff mit siebzehn Kapitänen am Ruder und lauter meuternden Mannschaften unter Deck.

Was in Gottes Namen ist nur los mit uns Europäern?

Haben wir in den Fußstapfen der Larener Revolutionäre vielleicht zu viel geträumt und einfach zu wenig selbst nach vorne geschaut?

Oder haben wir zu lange an einer Realität festgehalten, die sich nur auf Hoffnungen gründete, sich aber nicht an dem orientierte, was wirklich geschah?

Die Jahrzehnte verhältnismäßiger Ruhe, auf die wir zurückblicken können, haben bei uns die Vorstellung hinterlassen, dass unsere europäische Ordnung – und auch unsere westliche Weltordnung – auf hohem Niveau stabil bleiben würde. Das hat sich mittlerweile als schwerer Irrtum herausgestellt. Was wir gegenwärtig durchleben, ist keine einfache Krise oder konjunkturelle Talsohle, wie sie in jedem Jahrzehnt einmal auftritt. Wir stehen tatsächlich vor einem Abgrund: vor einer Krise, die nicht nur die Grundfesten unserer Gesellschaften zu erschüttern droht, sondern auch Europa und den Westen als Ganzes.

Diese Krise untergräbt die Fundamente Europas – im Bereich der Wirtschaft, aber insbesondere auch auf politischem und sozialem Gebiet. Es steht viel mehr als Geld auf dem Spiel. In den nächsten Jahrzehnten wird eine neue Welt entstehen, in der China, nach wie vor die Vereinigten Staaten, Japan, Indien und vielleicht auch Brasilien eine bedeutende Rolle spielen werden. Sollte unser Europa in dieser Welt des 21. Jahrhunderts nicht als gleichwertiger globaler Mitspieler Anerkennung finden, läuft es Gefahr, zur Beute der anderen Mächte zu werden. Und anstatt wie früher in der Welt ein „Lichtblick der Hoffnung zu sein“ – ein leuchtendes Beispiel für eine regionale internationale Ordnung –, wird es dann zu einem Vakuum werden, zu einem schwelenden Konfliktschauplatz von Staaten und vor allem auch von Nicht–Staaten.

Für den Normalbürger hat sich die glorreiche Europäische Union inzwischen allmählich in ein unentwirrbares Problemknäuel verwandelt – zu einem blinden Spiegel, der nur Rätsel aufgibt.

Mann erlebt Europa aus ein Übermaß an Regulierungswut anstelle von vorausschauender Politik, wo diese notwendig ist. Für diese ganze Verschwommenheit und für das demokratisches Defizit zahlt die Europäische Union schon lange einen hohen Preis. Dieser Preis besteht darin, dass die Legitimität der Union von Tag zu Tag schwindet. Es handelt sich bei diesem Prozess um eine langsame, stille Erosion, die eines Tages das ganze Gebäude abrupt zum Einsturz bringen kann.

Diese Entwicklung gipfelt in der jetzt schon achtzehn Monate andauernden Eurokrise, die wie ein Zugunglück in starker Zeitlupe über uns hereingebrochen ist. Wenn in diesem Herbst etwas gnadenlos deutlich geworden ist, dann ist es die Unregierbarkeit unseres heutigen Europa als eine supra–nationale Einheit. Die Euro–Schuldenkrise wird so zu einem Symptom für eine Wirklichkeit, der wir ins Gesicht sehen müssen: nämlich dass das „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ schon lange eine Realität ist, und dass die Legitimität des europäischen Einigungsprojekts an seine Grenzen stößt oder diese vielleicht sogar schon überschritten hat.

Die Möglichkeiten, die Europa in finanzieller wie in politischer Hinsicht hat, sind erschöpft. Das müssen wir uns bewusst machen und daraus die Konsequenzen ziehen. Zum Beispiel indem wir die Probleme der schwachen Euroländer vollständig den Experten auf diesem Gebiet, dem IMF, überlassen, indem wir der Europäischen Zentralbank endlich die Befugnisse einer normalen Zentralbank geben und gleichzeitig eine straffe finanzielle Koordination der Eurozone aufbauen. Wenn wir diesen Schritt nicht wagen und ihn nicht rasch tun, dann wird die aktuelle Situation unweigerlich, ich wiederhole: unweigerlich, zu einem oder mehreren Staatsbankrotten und zu einer tiefen Vertrauenskrise innerhalb von Europa führen.

Dabei laufen wir Gefahr, dass Europa in den Nationalismus von vor 1914 zurückfällt, in ein unsicheres Machtgleichgewicht zwischen Dutzenden von Staaten, das immer wieder gestört wird, in das chaotische und gefährliche Europa, von dem die Generation Willy Brandts uns mit viel Blut und Schweiß erlöst hat.

Diese Euro-Krise, meine Damen und Herren, ist auch eine Krise der Demokratie. Jahrzehntelang, vor allem nach dem Fall der Mauer, lebten wir in der Vorstellung, dass Demokratie und Kapitalismus Hand in Hand gehen, dass beide Systeme sich gegenseitig stützen und stimulieren und gemeinsam die beste aller Welten hervorbringen. Nichts ist offensichtlich weniger wahr. Sie bremsen einander, stören sich gegenseitig, sie basieren auf Emotionen und kurzfristigen Visionen; und das Ergebnis spottet immer wieder jeglichem Verstand.

In dieser Krise prallen regelmäßig die zwei Systeme aufeinander. Man könnte auch von zwei Welten oder von zwei Paradigmen sprechen: Da ist einerseits die Welt der Märkte mit der ihr innewohnenden Logik – und da ist andererseits die Welt der Demokratie mit den Emotionen und Sorgen der einfachen Bürger.

Analysiert man die bisherige Krisenpolitik, fällt an erster Stelle eine gewisse Einseitigkeit auf: Die Banken wurden viel zu lange geschont, trotz ihrer Mitverantwortung an diesem ganzen Debakel. Gleichzeitig werden aber die Gewerkschaften in die Mangel genommen, es werden massiv Sozialleistungen gestrichen – und die bei weitem größten finanziellen Lasten werden auf die einfachen Bürgerinnen und Bürger abgewälzt – und das sowohl in den Kreditgeber– als auch in den Kreditnehmerländern.

Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Ist das fair?

Woher kam bloß diese völlig unrealistische Vorstellung, dass europäische Staaten schlichtweg nicht zahlungsunfähig werden können und dass Kredite an ein Euro–Land praktisch risikofrei sind? Warum muss gerade diese niemals erfüllbare Verheißung so lange aufrecht erhalten werden? Warum wurde eine Staatspleite zu einem solch unlösbaren moralischen und politischen Problem gemacht, obwohl auch in der jüngeren Geschichte regelmäßig Staaten pleite gegangen sind?

Oder lassen Sie es mich in andere Worte fassen: Warum wurde seitens der Politik diese verantwortungslose Erwartungshaltung der Investoren immer wieder bis an die äußersten Grenzen mitgetragen? Warum lag die politische Priorität der europäischen Führung in dieser Krise bis zuletzt auf dem Schutz der Banken und der Finanzwelt – auf Kosten einer immer weiter erodierenden Legitimität des europäischen Einigungsprojekts?

Warum lassen es diese feigen – ja, ich sage feigen! – Politikerrunden zu, dass die Gewinne stets dem privaten Sektor zufließen, während die Verluste sozialisiert werden? Dabei weiß doch jeder verantwortungsbewusste Anleger auch um das Risiko von Verlusten! Ist das von unserem europäischen Traum übrig geblieben? „Recht schafft Frieden“, lautet ein Sprichwort. Leider ist aber auch das Gegenteil wahr: Unrecht schafft Chaos und Entfremdung.

Inzwischen geht die öffentliche Geduld mit dem europäischen Projekt zu Ende. Die ganze Krise wandelt sich jetzt langsam von einem finanziellen Desaster zu einer politischen Katastrophe. Von den Wählern und Bürgern Europas wird mittlerweile – und das begreift die Brüsseler Versammlungsrunde teilweise schon ganz gut, teilweise aber auch noch nicht – eine Geduld, eine Loyalität, eine Weisheit und eine Vision abverlangt, die allmählich geradezu übermenschlichen Charakter hat.

Schon vor über zehn Jahren, im Jahr 2000, warnte der britische Historiker Larry Siedentop vor den großen Gefahren einer nicht ausreichend legitimierten föderalen Struktur, die außerdem zu schnell über unser Europa gestülpt werden könnte. Dadurch würde, wie er in seinem Buch „Demokratie in Europa“ schrieb, ein „künstlicher Superstaat“ geschaffen, der Gefahr liefe, keinen Rückhalt mehr bei den europäischen Bürgern zu finden und stattdessen die komplexen Texturen der nationalen Gesellschaften tiefgreifend stören könnte.

Nun, meine Damen und Herren, dieser befürchtete „Superstaat“ und eine  föderale Struktur sind in Europa in den letzten elf Jahren nicht entstanden. Larry Siedentops Vorhersage hat sich jedoch in anderer Weise erfüllt: Tatsächlich hat sich eine Art „Supersystem“ über Europa gelegt, welches immer mehr in das alltägliche Leben eines jeden von uns eingreift und tiefgreifende Fragen hinsichtlich unserer Identität als Europäer aufwirft.

Viel schlimmer ist jedoch, dass das europäische System unter den Bürgern Europas immer weniger Rückhalt findet. In unserer Zeit kommt es einem Irrglauben, einer Illusion gleich zu glauben, die drängenden europäischen und globalen Fragen ließen sich auf nationalstaatlicher Ebene, also im Alleingang, lösen – wobei man vorzugsweise auch noch den anderen die Schuld an der Misere zuschiebt.

Doch für diese Einstellung gibt es eine Erklärung. Dieser Hang zum „Festhalten am Nationalen“ hat natürlich gerade etwas mit den unsicheren Zeiten zu tun, in denen die Menschen schon immer stärker am Alten und Bewährten festgehalten haben.

Die Verschwommenheit und die gleichzeitige Grenzenlosigkeit des europäischen Einigungsprojekts verstärkt dabei noch die geradezu zauberhafte Vorstellung von der eigenen Nation als „sicherem Hafen“.Mit Grenzenlosigkeit meine ich auch im übertragenen Sinne: Welche nationalstaatlichen Befugnisse müssen noch abgegeben werden, um beispielsweise den Euro retten können? Und an welche Institutionen? Meine Damen und Herren: Wie nur soll man hier als einfacher Bürger noch den Überblick behalten?

Wenn es ein europäisches Problem gibt, das derzeit schwerer wiegt als die Krise um den Euro, dann ist es das demokratische Defizit in Europa. Oder, besser, das fehlen an einem Europäischen bürgerliche identität. Wir sehen dieses Problem genau vor uns – es wird größer und größer. Und wenn es so weitergeht, kann es und wird es das Ende all unserer Träume bedeuten. Europa steht in den Augen seiner Bürger nicht mehr für Solidarität und Gerechtigkeit. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Entwicklung sind unvorhersehbar – und sie können heftig ausfallen.

Warum aber nur hocken wir stocksteif wie ein Kaninchen vor der Schlange?

Denken wir noch einmal an die jungen Leute in Laren im Jahr 1934 zurück. Sie genossen die Ungezwungenheit und Fröhlichkeit ihrer Jugend, aber sie sahen sich einem viel gefährlicheren Feind gegenüber als wir heute. Das Chaos jener Zeit war mindestens ebenso groß. Doch die Menschen damals waren zugleich von großer Ernsthaftigkeit erfüllt – sie wehrten sich, sie handelten, und sie trafen Entscheidungen.

Was lähmt uns im Jahre 2011 bloß so sehr?

Zu keiner Zeit ist der europäische Einigungsprozess reibungslos verlaufen: Nach dem Urteil des Historikers Tony Judt ist die Europäische Union – ich zitiere – „das unbeabsichtigte Produkt jahrzehntelanger Verhandlungen westeuropäischer Politiker, die vornehmlich damit beschäftigt waren, ihre nationalen Interessen zu fördern oder aufrechtzuerhalten.’ Zusätzlich angeheizt wurde dieser Prozess durch einen elitären Clubgeist, der, trotz aller Meinungsverschiedenheiten, Jahr für Jahr die Zusammenkünfte der europäischen Führungsköpfe bestimmt hat.

Der Zusammenschluss der europäischen Länder erfolgte so stets in Sprüngen und Schüben – aber immer getrieben von einem hohen Maß an Optimismus. Meistens wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt schlichtweg eine vollendete Tatsache geschaffen. Und dabei hoffte die europäische Politik stets, dass die immer dringender notwendigen Neuregelungen und Strukturreformen schon irgendwie von selbst folgen würden.

In dieser politischen Atmosphäre wurde auch der Euro eingeführt. Man kreierte eine gemeinsame Währung – ohne gleichzeitig die unabdingbar notwendigen finanzpolitischen Regulierungs– und Kontrollmechanismen auf europäischer Ebene zu schaffen. Und vom ersten Tag an wurde bei der Bewertung der Zulassungskriterien zum Euro–Betritt gemogelt. Der große Zirkus an buchhalterischen Zaubertricks, der von Athen über Rom bis nach Berlin und Paris zutage kam, war geradezu unglaublich! Die verantwortlichen Regierungschefs wollten unterdessen ihren gepflegten Clubgeist nicht allzu sehr gestört sehen: Sanktionen gegen die Vertragsverletzer

blieben aus. Es kehrte keine Disziplin ein. Und niemand wurde für sein Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen. Hinzu kam, dass keinerlei klare Entscheidungshierarchien – unentbehrlich für die Lösung einer solchen Krise – aufgebaut wurden.

Mein alter Freund Max Kohnstamm, früher einmal die rechte Hand von Jean Monnet, warnte immer wieder, das europäische Projekt sei dabei, sich von einem supranationalen System zu einem intergouvermentalen System zurückzuentwickeln, von einem System, das über den Staaten steht, zu einem System der Kompromisse zwischen den Staaten. Wie recht er hatte. Denn das heutige intergouvermentale System wird mit der aktuellen Krise nicht fertig.

Man kann den heutigen Finanzmärkten vieles vorwerfen, und zwar zu recht. Sie sind zu oft nur eine Geisterwelt, und sie handeln häufig nur mit Wind und Tulpenzwiebeln. Letztendlich aber waren sie in diesem Fall in erster Linie nur die Überbringer der schlechten Nachrichten. Das tatsächliche Problem lag und liegt bei der Realwirtschaft, bei der Politik und vor allem bei den Konstruktionsfehlern der Eurozone selbst.

Der Euro wurde mit drei Hauptsünden geboren, mit drei fatalen Konstruktionsfehlern: keine gute demokratische Legitimation, keine Disziplin, Kontrolle und Hierarchie, und – in diesem Moment sehr aktuell – keine Exit-Strategie. Im damaligen Gefühl des Triumphs hat man seinerzeit nicht bedacht, dass sich vielleicht einmal die Situation ergibt, dass ein Land die Eurozone wieder verlassen muss – mehr oder weniger gezwungen. Dafür wurde keine Regelung geschaffen. Für diesen blinden europäischen Optimismus bezahlen wir jetzt einen hohen Preis.

Die Eurokrise ist allerdings nicht nur ein verwaltungstechnisches und politisches Problem. Sie berührt auch die tiefgehenden Kulturunterschiede, die sich, ungeachtet alles Zusammenarbeit in Europa, hartnäckig am Leben halten. Ich meine damit die völlig unterschiedlichen Sichtweisen der europäischen Bürger auf ihren jeweiligen Staat und die weit voneinander abweichenden Erwartungen in diesem Punkt. Hier tut sich in Europa eine tiefe kulturelle Kluft auf, welche alle anderen Unterschiede in Sprache, Geschichte oder Religion übertrifft.

Schon immer haben beispielsweise die Italiener – seit jeher an einen fremden und ausbeutenden Staat gewöhnt – ihren Staat ganz anders gesehen als etwa die Briten, die Schweden, die Deutschen oder die Niederländer. Das gilt für eine ganze Reihe südeuropäischer Länder und – auf andere Weise – für die postkommunistischen Staaten Europas. Politische Macht, so fühlen die Menschen dort, wird letztendlich immer "irgendwo anders" ausgeübt – an Orten, von denen ein normaler Mensch keine Kenntnis hat. Der Staat – so denkt und fühlt man – geht nicht von den Bürgern aus. Die Hinterziehung von Steuern hat in diesen Ländern deshalb auch keine weitere moralische Bedeutung. Derartige Gefühle und Empfindungen haben eine lange Vergangenheit – und sie können nicht mit einem Crash–Programm aus Brüssel oder seitens des IWF von heute auf morgen verändert werden.

Die gegenwärtige Krise bringt nicht nur das große Symbol, den Euro, in Gefahr. Sie berührt das innerste Herz des europäischen Projektes, seine Grundphilosophie – die Idee nämlich, dass Europa auf einer politischen und sozialen Ebene zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen soll, die, wie auch immer, auf lange Sicht eine ähnliche Bindungskraft besitzt wie die einzelnen nationalstaatlichen Gemeinschaften.

Denn so verständlich die große Verärgerung bei uns im Norden auch ist, so liegen doch unsere Erklärungen und Lösungsvorschläge bislang immer nur auf der Ebene von Moral, Strafe, Läuterung – und so weiter. Beinah jede Europäische Sprache kennt mehrere Wörter für moralische Schulden und finanzielle Schulden, wie das Englische Unterschied zwischen „guilt“  und „debt“. Aber nicht bei uns, Holländer und Deutsche. Bei uns ist Schuld schuld, immer ein Fehler, immer ein moralisch Problem.

Jedoch, durch Schuld und Buße löst man keine Wirtschaftskrise. Allein mit Strafen und Sanktionen zieht man keine Wirtschaft aus dem Sumpf. Wie mir scheint, werden wir durch unsere eigenen Moralvorstellunalgen viel zu stark geblendet. Im Prinzip fechten wir hier einen kulturellen Konflikt aus, der dazu führt, dass das Vertrauen in den Euro und letztendlich in das gesamte europäische Einigungsprojekt weiter verloren geht.

Und auch wir in Nordeuopa werden dafür den Preis bezahlen Das Fallenlassen der europäischen Südflanke und das Kaputtsparen von Ländern wie Griechenland, Portugal, vielleicht auch bald Italien und Spanien könnte langfristig zu einem bisher unvorstellbaren Rückschlag führen – nicht nur für die betroffenen Länder selbst, sondern auch für das ganze übrige Europa. Allzu leicht könnten am Ende des Ganzen verbitterte Länder stehen – unter der Führung schnöder Populisten – mit einer Jugend, die keine Zukunft mehr für sich sieht.

Da sind schon Historiker die diese Zeitraum vergleichen mit der katastrophale Juli-Monat 1914, als alle schlummernde Gegensätze unumgänglich leiteten zu  einem Unheil das jedermann ein halbes Jahr vorher noch vor unmöglich hatte gedacht. Diese Historiker haben recht. Uns Denken ist jetzt nicht der Gefangene militärischen Logik, aber unserer nördliches Moralismus - gegenüber die allgemein bekannte Familiefehler unserer südliche Bruder und Schwester.

Der Amerikaner Herb Stein formulierte das einfachste Gesetz, das ich mir persönlich vorstellen kann, wie folgt: "If something cannot go on forever, it will stop.“

Besonders während einer Krise wird deutlich, ob eine politische Gemeinschaft – oder ihre Elite – überhaupt noch weiß, was und wohin sie will und ob ihre Vorstellungen überhaupt noch mit der Realität in Einklang stehen.

Für Willy Brandt und die anderen Pioniere eines geeinten Europas der ersten Generation hatten die Motive ihres Handelns letzten Endes tief emotionale Wurzeln: Diese Menschen hatten den Krieg überlebt. Und für sie bedeutete Europa, ich sagte es bereits, vor allem ein Projekt des Friedens – ein Projekt, bei dem es um die Wahrung der Menschenrechte und den Schutz demokratischer Werte auf internationaler Ebene ging.

Für die spätere Generation der europäischen Führungspersönlichkeiten wurden andere Werte immer wichtiger, besonders wirtschaftliche Interessen. Das kann man nachvollziehen, entsprach es doch der vorherrschenden Stimmungslage im späten zwanzigsten Jahrhundert.

Doch das  Ergebnis ist ein europäisches Einigungsprojekt, das eine starke Betonung auf den freien Markt und den deregulierten Wettbewerb legt – und ein Europa, das zugleich von einer globalistischen Philosophie besessen zu sein scheint. Ich ziele damit auf das internationale, Grenzen überschreitende Denken ab, bei dem die Welt und ihre Gesellschaften vornehmlich durch ein einfaches ökonomisches Vergrößerungsglas betrachtet werden.

"Die derzeitige Wirtschaftskrise ist ein gigantisches Fiasko des Marktsystems," hat der indische Nobelpreisträger Amartya Sen vor ein paar Wochen erklärt. "Die Krise wurde in der Tat durch das Marktsystem selbst ausgelöst. Die Krise steht zugleich für ein moralisches Versagen: für das Versagen eines Systems, das allein auf finanziellen Werten gegründet ist.“

Auch in Europa hat man sich diesem gnadenlosen Gott des angelsächsischen Marktmodells unterworfen – und dabei wurde völlig die Dynamik und das Vorbild des eigenen europäischen Wirtschaftsmodells unterschätzt: nämlich das Modell eines kontrollierten und abgemilderten Kapitalismus. Und es war die Sehnsucht nach diesem Modell, die Europas Bürger in dieser Krise en masse den Schutz ihrer alten Nationalstaaten suchen ließ.

Aus dem angelsächsischen Marktmodell erwuchs mit der Zeit eine regelrechte Besessenheit für das Individuelle, das Einzigartige und Messbare, während zugleich eine übermäßige Toleranz für alle Exzesse des modernen Kapitalismus zu beobachten war. Infolgedessen wurden – und werden immer noch, denn der Prozess ist nicht abgeschlossen, – vor allem öffentliche Werte zerschlagen, ethische und moralische Werte, die besonders auf die Gemeinschaft und deren Wohl gerichtet waren.

Die Ideologen und Theoretiker des freien Marktes, von links bis nach rechts, aber auch die Politiker und Bürokraten in ihren Fußstapfen, die für diese Krise mitverantwortlich sind, hatten dabei eines gemeinsam: eine geradezu erstaunliche Verachtung für alle Belange des normalen menschlichen Lebens – für die einfachen Bedürfnisse in der täglichen Arbeit, in Schulen, in den Wohnvierteln, in den Städten und auf den Dörfern.

Der junge Willy Brandt und seine Freundinnen und Freunde sprachen 1934 in Laren mit Vorliebe und ausführlich über das Übel des Großkapitals. Sie lagen mit ihren Ansichten richtiger, als uns heute allen lieb ist!

Erst Jahrzehnte später manifestiert sich ein Phänomen, das wirklich die Definition für „Großkapital“ erfüllt: ein unförmiges Monster, ein unkontrollierbares Netzwerk mit einer geradezu furchterregenden Macht, die selbst die politische Führungsspitze kaum noch in den Griff bekommen kann und vor der selbst gierige Casino–Player inzwischen zurückschrecken. Dass ist die andere Seite dieser Krise.

Neben die Euro, und die Euroländer, muss auch die Finanzwelt wieder reguliert en disciplinert werden. Im Interessen eines jeden Einzelnen von uns – aber auch im ureigenen Interesse der Finanzwelt selbst!

Meine Damen und Herren,

Bereits im Jahre 1952 warnte der Theologe Reinhold Niebuhr seine amerikanischen Mitbürger vor ihren „dreams of managing history“. Das waren Träume, die aus einem Übermaß an Erfolg und einer daraus resultierenden  Selbsttäuschung entstanden waren. Und solche Träume sind letztlich keine Quelle der Inspiration, sondern eine Bedrohung. Diese klugen Worte von Reinhold Niebuhr sollten wir Europäer uns auf die Fahnen schreiben. Wir können uns natürlich einer Art magischem Optimismus hingeben, dem Traum von einem Supermann. Und so geschah das auch in der Anfangsphase, in der Europa so unheimlich viel erreicht und aufgebaut hat – in einer Zeit, in der wir allein schon auf technischem Gebiet einen Erfolg nach dem anderen verbuchen konnten.

Wir können uns aber auch – und das würde zu den Europäern von heute wohl eher passen, befürchte ich – der Melancholie hingeben. Denn nach sechzig Jahren Integration wissen die europäischen Bürger – bei allen Fortschritten, die gemacht wurden – eigentlich immer noch nicht, wie sie zusammenleben sollen.

Aber vielleicht lernen wir das ja jetzt bald – und zwar aufgrund dieser Krise.

Ja, der Geist von politischen Pionieren wie Willy Brandt kann uns hierbei ein Vorbild sein, aber eben auch der Geist jenes jungen Herbert Frahm, der sich – bekleidet mit einem fusseligen Pullover – mit seinen politischen Freunden in Laren getroffen hat. Denn diese jungen Männer und Frauen, so naiv und mutig sie damals waren, wurden von etwas getrieben, wonach wir uns heute sehnen: radikale Hoffnung.

Dies ist ein anthropologischer Begriff, radikale Hoffnung. Sie entsteht manchmal in Kulturen, die sehr bedroht werden. Und sie funktioniert. Hoffnung ist immer ungewiss, man kennt schließlich das Ende nicht. Radikale Hoffnung ist in doppelter Hinsicht ungewiss, denn im Falle der radikalen Hoffnung ist nicht nur die Zukunft unsicher, sondern auch die Hoffnung selbst muss aufgrund der Umstände immer wieder korrigiert und neu definiert werden. Radikale Hoffnung geht daher weiter als Hoffnung, sie ist eine entschiedene Hoffnung auf eine bessere Zukunft plus dem unbedingtem Willen, an diesem Ziel festzuhalten, ungeachtet aller Ungewissheit und Widerstände.

Für radikale Hoffnung bedarf es eines bestimmten persönlichen Mutes. Man muss den Mut haben, ein Visionär zu sein, Geduld zu haben, von den ausgetretenen und beliebten Wegen abzuweichen und Parolen und Meinungsumfragen einzutauschen gegen die ganze Ungewissheit, die zu revolutionären Zeiten gehört – denn in solchen leben wir jetzt auch. Willy Brandt war ein Mann, der von radikaler Hoffnung angetrieben wurde. Und Herbert Frahm un seine freunde mit nach hinten gekämmtem Haar. Und alle Herberts und Betsies von heute.

Und dieses Europa, meine Damen und Herren, wird uns am Ende retten!

Hans Magnus Enzensberger schreibt in seinem kürzlich erschienenen Beitrag zur europäischen Krise über, wie er es nennt, das Europa der Taschenbücher, der Terminkalender und der kleinen Adressbücher voller  Telefonnummern vom polnischen Stuckateur über den Portier eines kleinen Hotels in Odense bis hin zur heimlichen Geliebten in Amsterdam. Er erzählt von kleinen Notizbüchern, die geradezu überquellen mit Adressen von Ferienhäusern, Geschäftspartnern, den Telefonnummern der Enkelkinder, von  Lehrern und Schülern, Zahnärzten, Winzern und so weiter bis hin zu Kontonummern, die auch dort notiert sind.

Ja, meine Damen und Herren, ich habe genau dieses ganz reale Europa im Auge. Das ist die Europäische Wirklichkeit die im letzten Jahrzehnte entstanden ist und die uns niemand mehr wegnehmen kann.

Jawohl, Europa muss ernsthaft mit sich selbst ins Gericht gehen um das Europäische Projekt zu retten. Am ersten müssen wir dieses Großfeuer löschen, mit alle mittel die Europa zum Verfügung hat. Jetzt ist nicht das Augenblick um zu reden über Deutsche Schuld und Niederländische Schuld und Griechische Schuld, es ist unserer gesamtliche Gebäude wo jetzt die Flamme aus die Fenstern züngeln. Deutschland muss in diese situation ein historische Entscheidung machen: wird es seine eigene Politik und seine eigene Moralitätin durch alles hin durchsetzen, oder wird es wirklich die Leitende Rolle aufnehmen die diese Krise Deutschland in den Schoss geworfen hat – und ich meine ein Leitende Rolle die alle Europäer acceptieren können.

Danach ist es wieder Zeit für Politik. Die drei große Fehler der Euro müssen wirklich korrigiert werden, um ein Widerholung dieser Krise zu verhüten und um das Vertrauen der Bürger und die Welt wieder zu winnen.    Natürlich werden sich die EU–Mitgliedsstaaten auch selbst disziplinieren müssen. Aber zugleich müssen wir Europa auch wieder aus der unglaublichen Macht dieses gestaltlosen Ungeheuers zurückerobern, welches sich in den letzten Jahrzehnten auf den Finanzmärkten breit gemacht hat.

Wir, Europäische Bürger, können dabei nicht machtlos stehen bleiben. Wir müssen wider lernen dass Europa nicht nur ein Welt von Institutionen ist! Wir müssen uns das europäische Einigungsprojekt selbst zu eigen machen. Wir müssen unser Europa lieben und es zugleich hassen. Aber wir müssen uns vor allem alle zusammen dafür ins Zeug legen!

Und wenn ich von „wir“ spreche, dann meine ich alle Europäer, wo sie auch leben mögen: in Helsinki, Brüssel, Berlin, Athen, Budapest oder Barcelona.

Ich meine uns: die Bürger Europas!

Meine Damen und Herren, uns bleiben vielleicht noch zwanzig Jahre, unsere Institutionen dem 21. Jahrhundert anzupassen. Die tiefe Krise, in der wir stecken, bietet uns die Möglichkeit zur Rückbesinnung und zum Umdenken.

Und zugleich bietet uns diese Krise eine letzte Chance, die Europäische Union zu vertiefen und vor allem zu demokratisieren, um unsere Lebensqualität neu zu bestimmen, die Macht des Kapitals in dieser Welt zu bändigen – und aufs neue dort Gerechtigkeit zu schaffen, wo Unrecht herrscht.

Wir müssen unsere radikale Hoffnung wiederfinden.

Trägheit ist unser größter Feind.

Es wurde schon so viel erreicht in Europa.

Um so mehr droht uns jetzt verloren zu gehen.

 

Ich danke Inhen.

 

23. November 2011