Wilders, der Händler der Angst

'Mir scheint, dass die Legitimation für das europäische Projekt bei den Bürgern aufgebraucht ist. Heute hätte kein Referendum über eine stärkere EU-Integration mehr Erfolg. Ich habe das Gefühl, dass man das in Brüssel noch immer nicht versteht.

Geert Mak erklärt, wer den Rechtspopulisten Wilders unterstützt, vor welchen Problemen die nächste Regierung steht und spricht über die neue Trennlinie in Europa – jene zwischen Nord und Süd. Interview: Matthias Kolb im Süddeutschen Zeitung

Sueddeutsche.de: Die Niederländer wählen ein neues Parlament. Das Land redet nicht mehr über die Probleme mit der Integration, sondern über die Wirtschaft. War die Krise nötig, um den Populisten Geert Wilders zu stoppen?

Geert Mak: Sie beschleunigt einen Prozess, der schon vor der Finanzkrise begonnen hat. Viele Wähler der PVV hatten zuvor erklärt, dass sie Herrn Wilders auch nicht wirklich mochten und seine Äußerungen als zu radikal empfanden. Doch sie stimmten für die PVV, weil sie den Politikern einen Denkzettel verpassen wollten .

Sueddeutsche.de: Woher kommt diese Wut?

Mak: Um dies zu verstehen, muss man die Geschichte kennen. Wir hatten jahrzehntelang ein Modell der Säulen, in denen sich die verschiedenen Gruppen organisierten. Es gab katholische Universitäten, protestantische Zeitungen und sozialistische Schulen. Das Land war verteilt, aber es gab der Politik eine Struktur. Unsere Toleranz ist durch ein Nebeneinander, durch ein Wegschauen begründet. In den sechziger Jahren wurden die Strukturen aufgebrochen, doch die Säulen hatten ihr Gutes gehabt: Sie waren ein informelles, demokratisches System, das die Politiker disziplinierte. Nun sind die Säulen weg, aber die Elite ist immer noch gleich. Das sorgt für Unbehagen.

Sueddeutsche.de: Geert Wilders ist nicht der Erste, der diese Gefühle anspricht und für sich nutzt. 

Mak: Das stimmt, diese Rebellionen gegen die Eliten tragen auch unterschiedliche Kleider. 2001 war Pim Fortuyn sehr erfolgreich, der vor seiner Ermordung viele Probleme ansprach – ihm ging es nicht nur Integration, sondern auch um Renten- oder Gesundheitspolitik. Das „Nein“ beim Referendum zur EU-Verfassung 2005 war auch ein solcher Protestschrei. Momentan profiliert sich Geert Wilders mit seiner fundamentalen Islam-Kritik. 

Sueddeutsche.de: Die Leute fühlen sich weiterhin nicht gut repräsentiert.

Mak: Die Leute haben das Gefühl, dass das System des Check and Balances nicht funktioniert. In der CDA, der christdemokratischen Partei, die seit 2002 mit Jan Peter Balkenende den Premier stellt, und bei den Sozialdemokraten gab es viele Leute, die alles taten, um an der Macht zu bleiben. Es gab keine Visionen mehr. Zugleich ist der Erfolg der PVV ein Prozess der Normalisierung.

Sueddeutsche.de: Inwiefern ist die Unterstützung eines Rechtspopulisten normal?  

Mak: In allen Ländern Westeuropas gibt es 15 bis 20 Prozent der Wähler, die solche populistischen Bewegungen unterstützen – siehe Österreich, Belgien, Frankreich oder Großbritannien. Die Linke in Deutschland ist ja auch eine Protestpartei. Wir sind also ganz normal, aber für uns Niederländer war das ein großer Schock - denn wir dachten, dass wir etwas besseres seien. Eine Besonderheit der Niederlande liegt darin, dass diese 15 bis 20 Prozent bisher schlecht organisiert sind. Die PVV ist keine richtige Partei, denn sie hat nur ein einziges Mitglied.

Sueddeutsche.de: Das ist Geert Wilders selbst.

Mak: Genau. Wilders ist diese Partei. Auf mittelfristige Zeit kann man sich nicht so organisieren als politische Bewegung, man muss Verantwortung abgeben, es braucht einen Mittelbau, um im Land vertreten zu sein. Dafür benötigt man Hunderte Leute. Wenn dies nicht geschieht, werden die wenigen Leute, denen er vertraut, rebellieren. Das ist auch schon geschehen. Am Ende habe ich das Gefühl, dass Wilders eine gewisse Gefahr für das politische System der Niederlande bedeutet – aber zugleich hält sich die Bedrohung in Grenzen, weil er keine schlagfähige Partei bilden kann. 

Sueddeutsche.de: Was lässt ihn zögern, Verantwortung abzugeben?

Mak: Wilders hat gelernt von Pim Fortuyn. Dieser hatte das Gefühl, einen Geist aus der Flasche gelassen zu haben, der nicht mehr zu bändigen war. Er sprach vor seiner Ermordung über die Enttäuschung, dass er die Kontrolle über seine Partei verloren hat. Wilders hat dies beobachtet und will deswegen alles in einer Hand haben.

Sueddeutsche.de: Politische Verantwortung kann er so nicht übernehmen.  

Mak: Geert Wilders kann und will am ende gar nicht regieren. Nach den Erfolgen bei den Kommunalwahlen in Den Haag und Almere im März stellte die PVV solch hohe Forderungen, die andere Parteien gar nicht erfüllen können. Wilders bietet ja auch keine Lösungen an, sondern erklärt alles mit der Religion. Dabei wissen die Leute, die in Vierteln mit vielen Einwandern leben, dass die dortigen Probleme mit Drogenkriminalität und Arbeitslosigkeit nichts mit Religion zu tun haben. Die marokkanischen Jugendlichen, die keine Perspektive sehen und randalieren, gehen doch nicht in die Moschee oder empfinden sich als religiös. Es sind soziale Hintergründe.

Sueddeutsche.de: Sehr populär war die PVV etwa in Almere, einer Trabantenstadt nahe Amsterdam. Dort leben kaum Marokkaner oder Türken. 

Mak: Es ist auf den ersten Blick verblüffend, dass die PVV in Almere beliebter ist als in Amsterdam, wo die wirklichen Probleme sind. In Almere leben viele Leute, die sich mit harter Arbeit einen gewissen Wohlstand verdient haben und sich ein Haus kaufen konnten. Dort herrscht aber die verbreitete Angst der Mittelschicht vor dem Absturz. Dieses Phänomen gibt es in ganz Europa. Ein anderer interessanter Ort ist Volendam: Dort leben vielleicht acht marokkanische Familien, wenn ich mich recht erinnere. Trotzdem bekam die PVV bei der Europawahl 40 Prozent.

Sueddeutsche.de: Was war dann der Auslöser?

Mak: Es ging um die Fischereiquote. In Brüssel hatte man entschieden, dass Aale kaum mehr gefangen werden dürfen. Also wollten die Fischer der Elite einen Denkzettel verpassen. Der Erfolg für die PVV hatte nichts mit dem Islam und den Erfahrungen mit Einwanderern zu tun.
    
Sueddeutsche.de: In den TV-Debatten konnte man sehen, dass Wilders vor allem Job Cohen angreift, den Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten. Der kennt als langjähriger Bürgermeister von Amsterdam die Realität und die mit Migration verbundenen Probleme besser.

Mak: Viele Politiker, die heute im Parlament in Den Haag sitzen, haben keine Erfahrung mehr in der Lokalpolitik. Früher war das anders, da wusste man von links bis rechts, wie die Realität aussieht. Heute verfolge ich die Debatten in der Tweede Kamer und habe den Eindruck, dass viele Abgeordnete den Bezug zur Realität verloren haben. Das betrifft  nicht nur die Integrationspolitik, sondern auch Bildung oder Pflegepolitik. Es werden Gesetze beschlossen, die nicht umsetzbar sind. 

Sueddeutsche.de: So etwas nutzt Geert Wilders sicher aus. 

Mak: Das tut er. Wilders war und ist auch ein guter Rattenfänger von Hameln, der wunderbar Flöte spielen kann. Die Medien haben ihn geliebt: Er war sehr gut in den öffentlichen Debatten und lieferte immer ein aufsehenerregendes Zitat. Ich habe vor einiger Zeit einen Artikel über Joseph McCarthy geschrieben, den von der kommunistischen Gefahr besessenen Senator im Amerika der fünfziger Jahren. McCarthy war ein ähnlich guter Händler der Angst, der prägnant formulierte. Er war total verrückt, die Leute vertrauten ihm nicht, aber er war immer in den Zeitungen, weil er ihnen Stoff lieferte. McCarthy war ein Produkt der Medien und das gleiche gilt auch für Wilders.

Sueddeutsche.de: Die Journalisten tragen Verantwortung für den Aufstieg der Partei der Freiheit?

Mak: Erst vor einem Jahr haben die Medien begonnen, kritisch über Wilders zu berichten. Es war eine Regionalzeitung, die als erste herausfand, woher das Geld der PVV kommt. Ein Teil kommt aus neokonservativen Quellen in den USA, die in Wilders einen Freiheitskämpfer sehen. Viele linke Journalisten hatten Angst, als "links" zu gelten und attackierten eher diejenigen, die kritische Fragen zu Herrn Wilders stellten. Ich bin mir sicher, dass künftige Historiker, die in 50 Jahren diese Quellen studieren, sehr erstaunt sein werden über die Haltung der niederländischen Medien.

sueddeutsche.de: Haben Sie eine Erklärung für dieses Versagen?

Mak: Es herrscht eine enorme Konkurrenz, in allen Bereichen. Wir haben keinen gut funktionierenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk mehr, viele Sender sind zumindest halb-privatisiert. Also wetteifern diese mit den privaten Sendern und  das führt zu einem großen Konformismus, denn keiner traut sich was. Im Printbereich ist es nicht besser: Wir haben drei Gratiszeitungen, die den Qualitätsblättern schwer zusetzen. Das führt zu einer großen Nervosität: Alles wird zum Skandal aufgeblasen und so geht uns das Maß verloren. Wir vergessen, was wichtig ist. Die ganze Gesellschaft ist fiebrig und die Presse ist es auch. Eine gefährliche Kombination.

Sueddeutsche.de: Der Sozialdemokrat Job Cohen gilt als Integrator. Konnte er die Debatte versachlichen?

Mak: Das geschah sofort, nachdem er seine Kandidatur bekannt gegeben hatte. Es herrschte vorher eine völlige Blockade in der niederländischen Politik. Es war wie ein Fluss, in dem sich das Wasser staut, weil zwei Baumstämme alles blockieren. Das waren der sozialdemokratische Finanzminister Wouter Bos und Premierminister Jan Peter Balkenende. Bos trat zurück, weil ihn seine Ehefrau vor die Wahl stellte: die Politik oder ich. Kaum war Bos weg, konnte das Wasser abfließen. Balkenende ist noch da, obwohl viele Bürger von ihm genug haben. Cohen hat viel erreicht: Ich habe nicht oft gesehen, dass ein Mann allein mit seiner Haltung das Klima ändern kann.

sueddeutsche.de: Wird er der nächste Premier?

Mak: Ich weiß nicht. Unser politisches System ist kompliziert, wir haben keine Fünf-Prozent-Hürde und in den Koalitionsverhandlungen kann viel passieren. Cohen war ein guter Bürgermeister, aber er kennt den rauen Politalltag nicht. Das sieht man in den TV-Debatten: Er hat nicht auf alles eine vorgefasste Phrase parat. Die Experten machen sich darüber lustig, aber das Publikum findet es nicht so schlecht. Cohen ist ein anständiger Mann in einem wenig zivilisierten Umfeld. Die Zuschauer merken, dass er wie ein Außenseiter wirkt, doch viele Bürger empfinden ähnlich. Cohen lässt Wilders auf einmal wie einen Insider aussehen, wie jemand, der seit Jahren Teil der machthungigen Elite in Den Haag ist.


Sueddeutsche.de: Die nächste Regierung muss fast 30 Milliarden Euro bis 2015 kürzen. Haben die Niederländer Verständnis dafür, dass nun gespart werden muss? 

Mak: Die meisten wissen, dass es so kommen wird, aber auf den Straßen reden noch nicht viele darüber. Ich nehme an, dass es in Deutschland ähnlich ist: Die Krise hat den Alltag der Menschen noch nicht verändert, abgesehen von einigen Sektoren wie der Baubranche. Man ist erstaunlich gelassen. Ich hätte erwartet, dass die Leute wütend sind auf die Banker - Fehlanzeige. Ich hatte auch gehofft, dass wir diskutieren, ob dieses komplett vom Markt dominierte System noch das richtige ist. Man sieht doch am Ende des 20. Jahrhunderts, dass der Sozialismus genauso gescheitert ist wie der Marktradikalismus. Aber diese grundsätzlichen Fragen werden nicht gestellt. Ich bin kein linker Ideologe, wirklich nicht, aber jetzt ist doch die Zeit, in der man darüber nachdenken muss.

Sueddeutsche.de: Wird die Euro-Krise in den Niederlanden als Gefahr wahrgenommen? In Deutschland spielen die Boulevardmedien mit diesem Thema ein gefährliches Spiel.

Mak: Hier wird diese Angelegenheit nicht so heiß diskutiert, wir müssen auch nicht so viel zahlen. Die Deutschen haben zurecht das Gefühl, dass sie immer solidarisch mit Europa waren und deswegen schmerzt der Vorwurf, nun als egoistisch zu gelten. Dabei hat Deutschland das Problem mit der DDR allein für Europa geregelt - und an Solidarität mangelte es eher am Südrand der EU. 

Sueddeutsche.de: Ist die europäische Solidarität gefährdet?

Mak: Zumindest fühlt man eine neue Trennlinie in Europa – und zwar nicht zwischen Ost und West, sondern nun zwischen Nord und Süd. Im Norden, also in Skandinavien, Holland, Deutschland, aber auch in Polen und dem Baltikum existiert ein gewisses, preußisch zu nennendes Gefühl gegenüber dem Staat. Die Schulden in Balance zu halten, ist für diese Länder ein Ziel, während Schulden für die Länder in Südeuropa eher ein Mittel ist, um glücklich zu leben. Das ist eine tiefe Kluft. Wir im Norden waren immer eifersüchtig auf die Familienmitglieder im Süden. Ich denke, dass dieses Gefühl in Deutschland etwas ausgeprägter ist, aber viele Niederländer fühlen genauso.

Sueddeutsche.de: Der Schriftsteller Leon de Winter schrieb im Spiegel, dass er die Gulden, die er zufällig gefunden habe, aufbewahren werde – denn bald könnte er sie wieder nutzen.

Mak: Eine solche Debatte gibt es eigentlich nicht in den Niederlanden, denn unsere exportorientierte Wirtschaft profitiert vom Euro. Man hat nur große Fehler bei der Einführung der Währung gemacht, indem die Wirtschaftspolitik nicht europaweit angepasst wurde. Man kann böse sein auf die Griechen, aber wir haben es ihnen leicht gemacht. Alle wussten, dass das System nicht krisensicher ist. Es ging zu schnell mit der Erweiterung – natürlich gehören Ungarn, Tschechien, Polen und die Balten dazu, aber man hätte nicht alle auf einmal aufnehmen müssen. Wir Holländer haben dafür ein Sprichwort: Der Hafen kehrt das Schiff. So kann es nicht mehr weiter gehen.

Sueddeutsche.de: Haben die Politiker der Mitgliedsstaaten das schon begriffen?

Mak: Mir scheint, dass die Legitimation für das europäische Projekt bei den Bürgern aufgebraucht ist. Heute hätte kein Referendum über eine stärkere EU-Integration mehr Erfolg. Ich habe das Gefühl, dass man das in Brüssel noch immer nicht versteht. Die mangelnde Legitimation macht es für Angela Merkel so schwer, die Euro-Hilfspakete ihren Bürgern zu vermitteln. Eine gute Demokratie braucht immer eine Mischung aus Aristokratie und Populismus, um dynamisch zu bleiben. In den Niederlanden fehlt es vielleicht an jener Aristokratie, die nötig ist, um langfristige Projekte durchzusetzen und für Besonnenheit zu sorgen. In Brüssel ist es andersrum: Da gibt es eben nur diese Aristokratie, aber niemand kümmert sich darum, was die Menschen denken. Diese Entwicklung macht mir Sorgen.

7 Juni 2010

Website Sueddeutsche