In Europa

Geert Mak reiste auf den Spuren des 20. Jahrhunderts kreuz und quer durch Europa, nach London, Wolgograd und Madrid, zu den Bunkern in Berlin, den parfümierten Kleiderschränken von Helena Ceausescu in Bukarest und zu den Spielzeugautos in einem verlassenen Kindergarten in Tschernobyl.

Was hat der bitterarme, zahnlos Alte in einem abgelegenen, verfallenen Dorf in Rumänien mit dem Bewohner eines holländischen Neubauviertels mit Hybridauto vor der Tür und Golfausrüstung im Flur gemein? Nicht viel – aber sie leben beide in einem Land, das zu Europa gehört. Innerhalb dieses Kontinents scheinen sich die unterschiedlichen Zeitschichten manchmal wie sich stauende Eisschollen übereinander zu schieben: Der eine Ort vermittelt das Gefühl, die Zeit habe stillgestanden, während man anderenorts kaum mit der Entwicklung Schritt halten kann.

1999, kurz bevor erneut ein Kapitel „Einhundert Jahre Europa“ zu Ende ging, unternahm Geert Mak im Auftrag des NRC Handelsblad eine Reise durch die Alte Welt. Sein Ziel: „Eine Art abschließende Inspektion: Wie sieht der Kontinent am Ende des 20. Jahrhunderts aus?“ Gleichzeitig war es eine „historische Reise“: „Ich folgte, soweit das möglich war, dem Lauf der Geschichte, auf der Suche nach den Spuren, die sie hinterlassen hatte.“ Das Inhaltsverzeichnis des Buchs besteht aus einer beeindruckenden Reihe von Orten, in denen Geschichte geschrieben wurde: Verdun, Ypern, Berlin, Predappio, Leningrad, Vichy, Nürnberg, Lourdes, Tschernobyl und Novi Sad, um nur einige zu nennen. Überall besuchte Mak Orte der Erinnerung, er suchte Auskunft in Archiven und sprach mit Schriftstellern, Historikern, Philosophen, Politikern, Widerstandskämpfern und Soldaten, aber auch mit einfachen Leuten, die ihm von ihrem Leben erzählten. All diese Gespräche, Dokumente und Bücher flossen zu einer imposanten Geschichte über ein Jahrhundert Europa zusammen, einem Erdteil, der zwar einen Namen trägt, der aber nie eine wirkliche Einheit bildete. Und wie könnte dies auch anders sein, in Anbetracht der vollkommen unterschiedlichen Kulturen in Europa und der Tatsache, dass die Lebenswirklichkeit zur gleichen Zeit so ungleich sein kann – wie sich vor kurzem erst sehr schmerzhaft zeigte, als in Jugoslawien, zwei Flugstunden von den friedlichen, geschäftigen Niederlanden entfernt, ein Bürgerkrieg tobte.

Das zwanzigste Jahrhundert ist Vergangenheit, Geschichte. Kriege wüteten, die Mauer fiel, eine europäische Währung wurde eingeführt. In der großen Studie, die In Europa ist, erleben wir all das noch einmal, oft anhand von Augenzeugenberichten. Dass dabei der Anschein entsteht, das Chaos werde größer, je mehr wir uns der Gegenwart nähern, ist Teil des Paradoxons von Geschichte: Je weiter eine Epoche aus dem Blickfeld entschwindet, umso schärfer wird das Bild, das wir von ihr haben. Maks Buch präsentiert ein faszinierendes Mosaik von Geschichten und Erzählungen, in denen wir später, mit etwas mehr Abstand, möglichweise ganz neue Muster entdecken werden.

„Anfang 1999 verließ ich Amsterdam, um mich auf eine Reise durch Europa zu begeben, die ein ganzes Jahr dauern sollte. Es war eine Art abschließende Inspektion: Wie sieht der Kontinent am Ende des 20. Jahrhunderts aus? Aber es war auch eine historische Reise: Ich folgte buchstäblich den Spuren der Geschichte, durch das Jahrhundert hindurch und über den ganzen Kontinent, beginnend im Januar bei den Überbleibseln der Pariser Weltausstellung und im rauschenden Wien, endend im Dezember, in den Ruinen von Sarajewo.

Das ganze Jahr folgte ich den Spuren des Jahrhundertes, kreuz und quer durch Europa, nach London, Wolgograd und Madrid, zu den Bunkern in Berlin, den parfümierten Kleiderschränken von Helena Ceausescu in Bukarest und zu den Spielzeugautos in einem verlassenen Kindergarten in Tschernobyl. Und ich sprach mit Zeitzeugen: mit Schriftstellern und Politikern, mit Widerstandskämpfern und hohen Offizieren, mit
einem Bauern in den Pyrenäen und mit dem Enkel des letzten deutschen Kaisers, Dutzende von Europäern, die ihre Geschichte offenlegten.

Dieser Reisebericht handelt von der Vergangenheit, und davon, was die Vergangenheit mit uns macht. Er handelt von Zerrissenheit und Unwissen, von Geschichte und Angst, von Armut und Hoffnung, von allem, was unser neues Europa trennt und verbindet.“ Geert Mak

Aus dem Niederländischen von
Andreas Ecke und Gregor Seferens
944 Seiten
Siedler Verlag
ISBN 9783886808267 (vergriffen)

Taschenbuchausgabe
Pantheon
ISBN 9783570550182